Streit vor Speed-Hit

"Schwachsinn": Künftige Airbag-Pflicht verunsichert Ski-Szene

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Es klingt nach mehr Sicherheit, sorgt aber für Bedenken in der Szene. Über die Airbag-Pflicht ab der Ski-Weltcupsaison 2024/25 wird auch am Rande des Abfahrts-Klassikers in Bormio (Donnerstag, 11.30 Uhr) heftig diskutiert. Viele Rennläufer haben ein ungutes Gefühl. 

ÖSV-Herrenchef Marko Pfeifer sitzt auch Wochen nach diesen Szenen der Schreck in den Knochen: Speedstar Broderick Thompson kommt bei hoher Geschwindigkeit ins Straucheln, stürzt, wird durch die Luft katapultiert und prallt aus mehreren Metern Höhe auf die harte Piste. Retter fliegen den Kanadier ins Krankenhaus, dort versetzen ihn die Ärzte in ein künstliches Koma. Pfeifer erinnert sich als Augenzeuge, der Unfall gehöre "zum Schlimmsten, was ich je gesehen habe".
 
Fast einen Monat ist Thompsons Trainingscrash von Ende November in Beaver Creek inzwischen her, dem Sportler geht es wieder besser. Er trug am Unglückstag keinen Airbag. Das wird es im kommenden Jahr nicht mehr geben. die FIS führt zur Saison 2024/25 das Tragen eines Spezial-Airbags unter dem Skianzug verpflichtend ein, und zwar für Frauen und Männer in Super-G und Abfahrt. Begründung laut FIS-Sprecherin: Airbags hätten sich "als wertvolle Maßnahme erwiesen, um die Sicherheit der Athleten bei Speed-Rennen zu erhöhen". Herren-Renndirektor Markus Waldner meinte, Thompsons Sturz wäre mit Airbag glimpflicher verlaufen.
 

Mayer erlitt trotz Airbag Wirbelbruch

Sind nun also alle happy über die Sicherheitsvorschrift der Fis ab der kommenden Saison? Mitnichten! Bei vielen Rennläufern und Betreuern überwiegen Unsicherheit und Unverständnis über die Entscheidung des Weltverbands. Viele finden die Spezialweste mit den aufblasbaren Luftkammern unpraktisch im Rennen. Einige zweifeln daran, dass der Airbag sie wirklich schützt. Manche fürchten, vom Hightech-Equipment gehe sogar eher eine Gefahr aus. Diese Diskussion gibt es seit dem Sturz von Matthias Mayer vor acht Jahren in Gröden, bei dem der Olympiasieger eine Brustwirbel-Fraktur erlitten hatte.

Der deutsche Sportdirektor Wolfgang Maier redet angesichts der kommenden Airbag-Pflicht in Rage: "Das ist wieder so ein typischer FIS-Schwachsinn!". Maier spricht von "Aktionismus". Ähnlich wie das plötzliche Verbot von Fluor-Wachsen, das seit diesem Winter für große Unsicherheit im Weltcup sorgt, könnte die Airbag-Pflicht im Chaos enden.

FIS löst Expertengruppe auf

Karl-Heinz Waibel, DSV-Technologiechef, war bis vor Kurzem Teil einer FIS-Expertengruppe, die mit Ex-Sportlern wie Pernilla Wiberg oder Marco Büchel über den Airbag beriet. Die Gruppe sprach sich gegen eine Airbag-Pflicht aus. Waibel: "Gegen schwere Rückenverletzungen braucht es keinen Airbag, da leistet der Rückenprotektor schon seit den 90er Jahren gute Arbeit". Der Airbag könne vielleicht gegen Prellungen schützen. "Aber kein Skirennfahrer jammert über Oberkörperprellungen." Angesichts der Anhäufung von schweren Knieverletzungen nannte Waibel den Airbag eine "Nebensächlichkeit". Die Fis ignorierte die Einschätzung der Experten - und löste die Gruppe jüngst still und heimlich auf.

Ist der Airbag also nutzlos? Oder noch gravierender: sogar gefährlich? Nach Mayer erlitt auch der deutsche Abfahrer Manuel Schmid bei einem Sturz mit ausgeöstem Airbag eine auffallende Wirbelverletzung. Die Hersteller weisen nach dpa-Informationen in offiziellen Schreiben an die FIS die Schuld für derartige Blessuren von sich.

Beide Schultern ausgekegelt

Doch das Misstrauen wuchs. Der deutsche Routinier Romed Baumann etwa fuhr sieben Jahre lang mit Airbag, nach der Verletzung von Teamkollege Schmid im Sommer 2021 legte er ihn wieder ab: "Ich hatte dann kein gutes Gefühl mehr." Im deutschen Team ist Ex-Kitzbühel-Sieger Thomas Dreßen einer der wenigen, die den Airbag nutzen - dabei ist davon auszugehen, dass dem Speedspezialisten Anfang 2020 bei einem Rennsturz durch die Wucht des sich blitzschnell aufblasenden Airbags beide Schultern ausgekugelt wurden.

Auch Top-Stars wie der Norweger Aleksander Aamodt Kilde oder Dominik Paris aus Südtirol ziehen keinen Airbag an, wenn sie am Donnerstag die Abfahrt und am Freitag den Super-G (jeweils 11.30 Uhr/ORF1 live) in Bormio auf einer der eisigsten, schwierigsten und gefährlichsten Pisten im Weltcup-Kalender bestreiten.  

Und wer haftet künftig?

Ab der Saison 2024/25 aber müssen sich dann alle mit der Airbag-Pflicht abfinden. Daran werden auch die Bedenken und zum Teil rechtlichen Fragen, die Top-Nationen wie Österreich, Deutschland und die Schweiz an die FIS übermittelten, kaum was ändern. Wer beispielsweise haftet, wenn Sportler gegen ihren Willen einen Airbag tragen und dieser eine Fehlfunktion aufweist? Was passiert, wenn ein Airbag fälschlicherweise auslöst und ein Athlet deshalb zu Sturz kommt? Die FIS hat darauf, wie zu hören ist, keine zufriedenstellenden Antworten geliefert.

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