Korrekte Umgangsformen sind nicht nur auf Bällen gefragt. Warum gesellschaftliche Konventionen den Alltag erleichtern, erklärt Stil-Expertin Henriette Kuhrt, die in ihrem neuen Buch moderne Knigge- Fragen beantwortet.
Knigges Namen kennen viele, den Originaltext seiner Benimm-Abhandlung „Über den Umgang mit Menschen“ von 1788 kaum jemand. Dabei ist dieser höchst interessant, Freiherr widmete sich darin dem bewussten Verhalten gegenüber sich selbst und anderen. Es gehe, schreibt Knigge auf den ersten Seiten in damaliger Rechtschreibung, um die Kunst, „sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu seyn; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigenthümlichkeit des Characters zu verliehren, noch sich zu niedriger Schmeicheley herabzulassen“. So geht es in dem Werk des überzeugten Aufklärers um Selbstbestimmung und Freiheit und keinesfalls die Anordnung von Weingläsern oder der Faltung des Einstecktüchleins. Wie begegnen und wie behandeln wir einander sind die Leitmotive, die für Adolph Freiherr Knigge im Vordergrund standen und auch heute, trotz gesellschaftlicher Veränderungen, von großer Relevanz sind.
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Modernes Update. Für die „Neue Zürcher Zeitung“ steht Henriette Kuhrt jede Woche als Benimm-Expertin Rede und Antwort, in ihrem neuen Buch „Hat das Stil?“ hat sie 256 Fragen in Form eines unterhaltsamen und klugen Ratgebers des modernen Lebens vereint. MADONNA fragte bei der Autorin nach, warum es wichtig ist, auch im Alltag gewisse Benimmregeln einzuhalten und welchen Einfluss die Knigge-Kultur heute noch hat.
Was macht Sie zur Stilexpertin?
Henriette Kuhrt: Seit sechs Jahren schreibe ich die Stil-Kolumne bei der „Neuen Zürcher Zeitung“ am Sonntag und halte dazu Vorträge. Dabei haben mir zwei Dinge geholfen: Die strenge Erziehung meiner Mutter (aufrecht sitzen, englisches Mädcheninternat) und mein wilder Vater: An seiner Schreibtischlampe im Büro klebte ein ausgestreckter Mittelfinger, so hat er seine Mandanten empfangen. Gutes Benehmen ist wichtig, aber etwas Anarchie tut der Sache manchmal ganz gut.
Haben Sie das Gefühl, dass heutzutage auf Stil und Konventionen weniger wert gelegt wird?
Kuhrt: Konventionen verändern sich permanent – und nur weil man Menschen schneller duzt, heißt das nicht, dass man weniger rücksichtsvoll ist. Vieles hat sich verbessert: Mobbing ist nicht cool, sondern etwas, was in Schulen und Firmen ernst genommen wird. Unternehmen, die Frauen und Minderheiten nicht berücksichtigen, gelten als gestrig. Sexismus, Homophobie und Gewalt sind zumindest offiziell verpönt.
Welche Trends sehen Sie noch? Was muss noch passieren?
Kuhrt: Ich sehe zwei große Trends: Die Toleranz gegenüber allen sexuellen Identitäten wird Menschen und Gesetzgeber weiter beschäftigen. Und die Neubewertung individuellen Verhaltens angesichts der Klimakrise: Kann ich noch stolz sein auf mein großes Auto, mein Powershopping, die Kreuzfahrt?
Welche Bedeutung hat der Knigge in der heutigen Zeit?
Kuhrt: Unser Alltag ist extrem verdichtet: Kinder, Arbeit, Gesundheit, Beziehung, Mobilität, jeder Mensch hat eine lange To-do-Liste. So viel Selbstbestimmung ist schön. Doch andere Menschen haben ebenso viel auf dem Zeiger, da sind Stil und Benehmen wichtig, um Reibungsverluste niedrig zu halten.
Welche neuen Regeln sind hinzugekommen?
Kuhrt: Die sozialen Netzwerke sind alle relativ neu, da entstehen viele Missverständnisse. Kann ich Bilder meiner Kinder zeigen, soll ich die Krankheiten anderer Menschen mit einem „Herz“ versehen und kann ich das Kürbis-Emoji für Donald Trump verwenden? Da gibt es viele offene Fragen ...
Etwa im Bezug auf die Nutzung von Mobiltelefonen – oder die Kindererziehung?
Kuhrt: An Mobiltelefone haben wir uns ja gewöhnt. Und da lediglich eine Minderheit sie noch zum Telefonieren benutzt, glaubt ja niemand mehr, sich mit lautstarkem Businesstalk im Flughafen-Terminal profilieren zu können. Schwieriger ist es, die Affekte im WhatsApp-Familienchat nicht eskalieren zu lassen, wenn es darum geht, ob es Weihnachten Himbeer- oder Brombeereis zum Nachtisch gibt.
Wie sehen Sie die Zukunft von Knigge und gutem Stil?
Kuhrt: Es wird immer weniger starre Regeln geben. Ein Beispiel: Früher war die Architektur eines Dates ganz klar, wer ruft wen an, wer zahlt, diese Fragen. Heute wird alles verhandelt. Das ist mühsam, aber ich meine: Die Sache ist es wert.
Eine Stil-Expertin gibt Ratschläge
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Nachgefragt bei Stil-Expertin Henriette KuhrtKein Handschlag vom iranischen Delegierten im Job – muss ich das hinnehmen?
„Sie könnten es natürlich wie Michelle Obama machen, die beim Besuch in Indonesien einem sittentreuen Minister die Hand kräftig schüttelte, was wiederum dafür sorgte, dass dieser in Erklärungsnot geriet. Aber als Pragmatikerin behaupte ich, dass es nicht immer opportun ist, sich wie eine First Lady zu benehmen, auch wenn Mrs. Obama natürlich Haltung und Manieren hatte. Damit sind wir beim Thema: Haltung vs. Manieren – manchmal muss man leider wählen. Und: Würden Sie sich genau die gleichen Fragen stellen, wenn die Männer nicht Muslime, sondern Gläubige einer anderen Religion wären, die weniger unter Druck stünde?“
Kein Handschlag vom iranischen Delegierten im Job – muss ich das hinnehmen?
„Sie könnten es natürlich wie Michelle Obama machen, die beim Besuch in Indonesien einem sittentreuen Minister die Hand kräftig schüttelte, was wiederum dafür sorgte, dass dieser in Erklärungsnot geriet. Aber als Pragmatikerin behaupte ich, dass es nicht immer opportun ist, sich wie eine First Lady zu benehmen, auch wenn Mrs. Obama natürlich Haltung und Manieren hatte. Damit sind wir beim Thema: Haltung vs. Manieren – manchmal muss man leider wählen. Und: Würden Sie sich genau die gleichen Fragen stellen, wenn die Männer nicht Muslime, sondern Gläubige einer anderen Religion wären, die weniger unter Druck stünde?“
„Der Ratgeber für das Leben von heute“ ist erschienen im Midas Verlag und erhältlich um 18,50 Euro.
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