Vincent Kriechmayr ist der Mann, der den 92. Lauberhornrennen seinen Stempel aufgedrückt hat.
Die Affäre um die verspätete Anreise nach Wengen aus der Corona-Quarantäne gipfelte am Samstag in seinem Sieg beim Abfahrtsklassiker. Dass er Beat Feuz auf den zweiten Platz verwies und Marco Odermatt "nur" Vierter war, schmeckte vielen Schweizern nicht. So wurde darüber diskutiert, ob der Oberösterreicher ausgeruht einen Vorteil hatte - oder von oberster FIS-Stelle beschützt wurde.
Die Frage, ob Kriechmayrs zwei nicht gemachte Trainingsläufe das entscheidende Ass in seinem Ärmel waren, konnte am Samstag nicht geklärt werden. "Ich war trotzdem blau, muss ich sagen", rekapitulierte der Weltmeister seine Fahrt. "Vincent hat heute ganz klar ausgespielt, dass er mehr Kraft hatte als wir anderen", meinte Feuz. "Gleichzeitig gibt es wohl keine fünf Athleten, die im Kopf und Körper bereit sind, ohne Training vorher ihre Fahrt von ganz oben bis unten so durchzuziehen", sagte der Schweizer, der die Siegerehrung am Abend im Dorfzentrum schwänzte, um zu seiner schwangeren Freundin Katrin zu reisen.
"Er hat den Sieg verdient"
Kriechmayr gab das Kompliment nach seinem ersten Sieg in diesem Weltcup-Winter zurück: "Wenn Beat in Kitzbühel ohne Training die Abfahrt fährt, fährt er auch um den Sieg mit." Die Erfahrung mache es eben aus. "Bei den Klassikern ist der Charakter jedes Jahr gleich. Ob das Tor einen Meter weiter links oder rechts steht, ist jetzt nicht entscheidend." Kriechmayr habe nicht betrogen, betonte der überlegende Weltcup-Gesamtführende Odermatt. "So wie er gefahren ist, hat er den Sieg verdient."
Der im Raum stehende und von vielen Schweizern geteilte Vorwurf lautet, dass die FIS die bisher gängige Auslegung ihres Reglements mit Füßen getreten habe, damit Kriechmayr in Wengen starten kann. Dabei gibt es zwei Aspekte: zum einen die Wettkampfregel, wonach die Teilnahme an zumindest einem Training verpflichtend ist. Kriechmayr verpasste beide Trainingsfahrten, durfte sich aber am Freitag aus dem Starthaus wuchten und sofort abschwingen.
"Eine der größten Sauereien"
Zweitens gibt es das Covid-Regulativ der FIS. Laut Swiss-Ski muss ein positiv getesteter Athlet länger in Quarantäne bleiben als Kriechmayrs fünf Tage. Das wurde dadurch ausgehebelt, dass Kriechmayrs positiver Test nie bei dem Weltverband aufschlug - er damit offiziell nicht positiv war. Die FIS habe hier "komplett versagt", schimpfte der Schweizer Alpin-Direktor Walter Reusser. "Wenn man alles biegt, damit es für gewisse Personen passt, ist das einfach nicht in Ordnung." Verbandschef Urs Lehmann ortete gemäß "Blick" "eine der größten Sauereien, die jemals im Skirennsport passiert sind".
Es helfe, "wenn du einen großen Namen hast", merkte der Südtiroler Christof Innerhofer an. "Natürlich ist so eine Entscheidung leichter, wenn es einen Namen wie mich oder Beat Feuz betrifft. Kann schon sein, dass sich die FIS dann eher bewegt", wollte Kriechmayr das gar nicht bestreiten.
Die französischsprachige Ausgabe des Portals "20min.ch" etwa ging aber noch einen Schritt weiter und stellte den Konnex zu FIS-Präsident Johan Eliasch her. Denn der Brite mit schwedischen Wurzeln lenkte bis Sommer 2021 als Vorstandsvorsitzender und CEO die Geschicke der Firma Head, deren Ski Kriechmayr verwendet. Hat gar Eliasch pro Kriechmayr interveniert? Im Zielraum in Wengen ließ der FIS-Boss Interview-Anfragen - allerdings zu anderen Themen - ablehnen.
"Im Kopf ist der 'Vinc' stark", erwähnte der österreichische Männer-Cheftrainer Andreas Puelacher. Durch die Diskussionen um seine Person habe sich der Sportler nicht beirren lassen. "Wir haben gesagt, wir machen kein Thema daraus. Die Entscheidung haben ja nicht wir getroffen, die hat die Jury getroffen." Zufrieden war Puelacher nicht nur mit dem Sieger, sondern auch mit dem fünftplatzierten Matthias Mayer sowie Otmar Striedinger, Max Franz und Daniel Hemetsberger auf den Rängen neun bis elf. Das Basteln an den Olympia-Aufstellungen im Speed wird kein Spaziergang.