Die Pharmakonzerne sind rund um Diabetes in heller Aufregung: Vor etwas mehr als zwei Monaten tauchte in einer wissenschaftlichen Untersuchung ein eventueller Zusammenhang zwischen einem lang wirksamen Insulin-Analogon und Krebsfällen auf. Doch der Story - so Experten am Mittwoch beim Europäischen Diabetes-Kongress in Wien (bis 2. Oktober) - geht buchstäblich die Luft aus.
Dass Zuckerkranke aber öfter von Haus aus an Krebs erkranken und auch öfter daran sterben, ist unbestritten. Der britische Experte Edwin Gale, der die international führende Diabetes-Fachzeitschrift "Diabetologia" herausgibt und die kritischen Studien veröffentlicht hat: "Diabetikerinnen entwickeln öfter Brustkrebs und sterben um 50 Prozent häufiger daran. Beim Pankreaskarzinom erhöht sich das Risiko von Zuckerkranken auf das Fünffache. Wir können aber nicht sagen, ob die Risikoerhöhung durch die Insulinresistenz bei Typ-2-Diabetes oder eventuell auch durch die Gabe von Insulin eintritt."
Das führt automatisch in die Diskussion, ob denn die Behandlung von Diabetes mit oralen Blutzucker-senkenden Mitteln oder mit gentechnisch erzeugtem Human-Insulin oder künstlich veränderten Insulin-Analoga zu dem erhöhten Risiko oder gar zu einer Minderung beitragen kann. Es handelt sich darüber hinaus um einen Milliarden-Euro-Markt, in dem es heftiges Marketing gibt.
Der kanadische Experte Jeffrey Johnson: "Verwendet man statt der Substanz Metformin zur Blutzuckersenkung Sulfonylharnstoffe, steigt das Krebsrisiko um 30 Prozent. Gibt man Typ-2-Diabetikern Insulin, steigt das Risiko um 90 Prozent. Metformin in Kombination mit Glitazonen (neuere Blutzucker-Reduzierer mit belegtem Herz-Kreislauf-Risiko, Anm.) senkt die Gefährdung um 26 Prozent." Geringe Dosierungen Insulin führen zu keiner Erhöhung der Krebsrate, hohe Dosierungen aber offenbar schon, wobei der ursächliche Zusammenhang nicht belegt ist. Typ-2-Diabetiker sind zumeist auch übergewichtig oder fettsüchtig, was ihre Krebsanfälligkeit von Haus aus deutlich erhöht. Johnson: "Wir sollten die Therapie nicht verändern, vielleicht sollten wir vorsichtiger sein, wenn wir Patienten neu auf Insulin einstellen."
Die Metformin-Proponenten sind über den vermuteten Schutzfaktor des Medikaments begeistert. Ulf Smith, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Diabetes-Forschung (EASD): "Metformin zielt offenbar auf die Stammzellen. Metformin führt zusätzlich zu einer Chemotherapie bei Krebs zu besseren Behandlungsergebnissen. Das ist extrem aufregend." Die Substanz ist uralt und wird bei Typ-2-Diabetes, besonders bei übergewichtigen Patienten, als Basistherapeutikum eingesetzt.
Bleibt die Frage der lang wirksamen Insulin-Analoga. Es handelt sich dabei um Insulin-ähnliche Proteine, die durch Austausch von Aminosäuren auf eine 24-Stunden-Wirkung getrimmt sind und eine einfache Basis-Insulin-Behandlung mit einer Injektion am Tag ermöglichen. Jay Skyler, Diabetologe aus Miami (USA), zu Insulin glargine ("Lantus"/Sanofi-Aventis): "Einzelne Auswertungen deuten bei Verwendung von Insulin glargine sogar auf ein geringeres Krebsrisiko als mit herkömmlichem NPH-Insulin hin. Eine Auswertung von 31 Studien mit 11.000 Patienten brachte keinen Unterschied. Insulin glargine verursacht keinen Krebs."
"Lantus" war vor zwei Monaten in Verdacht gekommen. Sanofi-Aventis hat ein neues Studienprogramm zur Klärung allfälliger Fragen gestartet. Der britische Experte David Russel-Jones konnte das für das bisher nicht in diesem Zusammenhang aufgefallene Insulin detemir ("Levemir") vom Konkurrenten Novo Nordisk nur bestätigen. Im Vergleich von 6.600 Patienten aus klinischen Studien mit diesem lang wirksamen Analogon gab es 0,36 Krebsfälle pro 100 Patienten-Jahren in der Levemir-Gruppe und 0,92 in der NPH-Insulin-Gruppe.