Große Sonnenbrille, akkurat geschnittener Bob mit Stirnfransen, Haute-Couture-Kleid sind ihre Markenzeichen
Karriere-Ende? Nein, nennen wir es Karriere-Abend, den Anna Wintour mit nun 70 Jahren antritt. Und selbst diesen Ausdruck würde die „Vogue“-Chefin wohl keineswegs akzeptieren. Erst jüngst startete die berühmteste Modejournalistin der Welt (wie berichtet) ihre „Master Class“ – einen „Online-Kurs“ zum Thema „How to be a Boss“ („Wie man Chef ist“). An Ruhestand auch bloß zu denken, ist darin nicht enthalten. Vielmehr sind es Disziplin, viel Arbeit und pure Leidenschaft für den Beruf, die einen an die Spitze bringen – meint Wintour. Und niemand stellt ihre Theorie besser unter Beweis als sie selbst. Am kommenden Sonntag, 2. November, feiert Anna Wintour ihren 70. Geburtstag. Unzählige Male schon wurde ihr baldiges Karriere-Aus prophezeit. Ihre Tochter Bee sei Anwärterin für den begehrten wie auch gefürchteten Posten als Chefin der Modebibel. Gerüchte, zu denen sich der New Yorker Verlag nur wie folgt äußerte: „Frau Wintour ist unglaublich talentiert und eine Kreativchefin mit unmessbarem Einfluss. Sie wird unbefristet weiterarbeiten.“ Und genau so ist es auch. Punkt. Doch was macht die gebürtige Londonerin, deren Karriere beim renommmierten Kaufhaus Harrods begann und sie Mitte der 1970er-Jahre nach New York zunächst zum „Harper’s Bazaar“ und schließelich 1986 zur US-„Vogue“ (zunächst als Redakteurin) führte, so unersetzbar?
„Sie hält den Finger nicht in den Wind – sie ist der Wind …“
Es ist freilich vor allem ihre fachliche Kompetenz, die der Britin von Beginn an hohes Ansehen in den größten und angesehensten Moderedaktionen Amerikas bescherte. Zum einen beherrschte die junge Wintour als Tochter von „Evening Standard“- Herausgeber Charles Vere Wintour schon früh das Handwerk des Schreibens und Beiträge-Gestaltens. Zum anderen zeichnete sich bei ihr bereits in jungen Jahren ein unfassbares Gespür für Mode ab. Was anfänglich teils für Kopfschütteln in der Branche sorgte, sollte ihr Erfolgsrezept werden. Schon das erste Cover unter ihrer Ägide als neue „Vogue“-Chefredakteurin 1988 polarisierte: Sie ließ das Model dafür in einem 10.000-Dollar-Shirt von Christian Lacroix und dazu 50-Dollar-Jeans ablichten. „Zum ersten Mal in der Geschichte der ‚Vogue‘ haben es Jeans auf das Cover geschafft“, schrieben die Kritiker. Dass nicht mehr nur im Studio, sondern auf New Yorks Straßen geshootet wurde, nicht mehr alles überperfekt, sondern lockerer inszeniert wurde und das gesamte Magazin somit einen völlig neuen Look bekam, rüttelte Werbekunden ebenso wie Designer aus ihrem eleganten Dornröschenschlaf. Was der 70-jährigen Ikone übrigens bis heute gelingt. Immer wieder erfindet sie das Magazin neu und gibt damit der Modeszene Impulse. „Anna hält ihren Finger nicht in den Wind, sie ist der Wind“, bringt es die „New York Times“ auf den Punkt.
© Getty Images
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„Welchen Job hätten Sie gerne?“ – „Ihren!“
Was hätte ihr alles Können genützt, hätte es ihr am eisernen Willen gefehlt, es ganz nach oben zu schaffen? Im Rahmen ihres Vorstellungsgesprächs bei der „Vogue“ 1983 soll Chefredakteurin Grace Mirabella sie gefragt haben: „Welchen Job hätten Sie denn gern?“ Die 34-jährige Anna Wintour soll geantwortet haben: „Ihren!“ Um ihr Vorhaben nur fünf Jahre später zu realisieren. Dass sie dabei, wie Insider bis heute kolportieren, förmlich „über Leichen“ ging, spielte keine Rolle. Anna Wintour ließ nicht nur in den Redaktionsräumen sämtliche Wände umreißen und durch Glasfronten ersetzen – sie „betonierte“ auch jeden, der sich ihr und ihren Relaunch-Ideen widersetzen wollte. „Es wurden viele Mitarbeiter gekündigt, aber viele sind auch von alleine gegangen“, berichtete die Ex-Merchandise-Chefin der „Vogue“ später. „Es war plötzlich ein völlig anderes arbeiten unter ihr. Anna hat alles allein entschieden.“ Eines ihrer Prinzipien, die Wintour auch viele Feinde bescherte …
Der Film ist Programm
Und so kam’s, dass eines Tages eine Frau namens Lauren Weisberger „auspackte“. Ihr Roman „Der Teufel trägt Prada“ sollte der ehemaligen Assistentin von Anna Wintour Anfang der 2000er-Jahre Weltruhm und ein Vermögen bescheren. Noch mehr in den Fokus der breiten Öffentlichkeit geriet – vor allem durch den Kino-Hit mit Meryl Streep und Anne Hathaway – jedoch der „Teufel“ selbst. Frei nach dem Motto „Hauptsache, man spricht über mich“ schadeten die komödiantisch dargestellten Redaktionsszenen der Chefredakteurin keineswegs, sie bescherten ihr vielmehr auch abseits der Modebranche Kultstatus – und damit einen unfassbaren Werbewert. Zur Kinopremiere von „Der Teufel trägt Prada“ erschien Anna Wintour übrigens höchstpersönlich – von Kopf bis Fuß in Prada gekleidet.
Ein Look als Markenzeichen
Während Wintour in ihrem Magazin und der Redaktion immer wieder gerne für frischen Wind sorgt, bleibt die Stil-Ikone in ihrem eigenen Werken, aber auch was ihren Look betrifft beständig. Seit ihrem Karrierestart trägt sie dieselbe Frisur. Der Bob mit Stirnfransen sitzt stets so perfekt, dass ihr mehrfach angedichtet wurde, eine Perücke zu tragen. Dies jedoch kann getrost dementiert werden – Wintour hat freilich einen eigenen Haarstylisten, der den Bob täglich akkuart pflegt. Ihr zweites Markenzeichen sind die Sonnenbrillen, die Anna Wintour zu jeder Tages- und Nachtzeit trägt. „Sie sind sehr nützlich, weil sie verhindern, dass die Leute wissen, über was man gerade nachdenkt“, verriet sie dazu in einem ihrer raren Interviews. Nahezu ein Teil von ihr sind übrigens auch die Manolo-Blahnik-Pumps, die die „Vogue“-Chefin liebt und seit über 20 Jahren (freilich immer in neuen Ausführungen und fast niemals dieselben) trägt.
Harte Schale, weiches Herz?
So hart die Karriere-Lady beruflich ist, so feinfühlig soll sie privat sein. Es ist kein Zufall, dass dies auch in „Der Teufel trägt Prada“ so skizziert wird. In der Realität soll Anna Wintour ihren beiden Kindern stets eine liebevolle, wengleich beruflich extrem eingesetzte Mutter gewesen sein. Vier Jahre bevor sie Chefredakteurin wurde, heiratete die Modejournalistin den Kinderpsychologen David Shaffer, doch die Ehe scheiterte 1999. Ihr größtes Glück: die beiden Kinder Bee (32) und Charles (34). Dass Bee in ihre Fußstapfen tritt, bewies sie auch damit, dass sie im letzten Jahr mit Francesco Carrozzini ausgerechnet den Sohn der 2016 verstorbenen Chefredakteurin der italienischen „Vogue“ Franca Sozzani heiratete. Anna Wintour selbst ist seit 2004 mit Shelby Bryan (73) verheiratet. Seine Berufsbezeichnung: Futurist. Und nichts würde besser zu dem Mann an der Seite der ewigen Modepäpstin passen.