Ob on- oder offline - wenn es um Übergriffe & Grenzüberschreitungen geht, sind Kinder besonders schutzbedürftig. Was wir tun können.
Noch nie zuvor hatten Kinder und Jugendliche so viel Einblick in teils verstörende Bilder und Filme im Internet. 72 Prozent der 0bis 6-Jährigen sind laut Safer-Internet-Studien bereits online aktiv. Der Umkehrschluss: Noch nie zuvor hatten Pädokriminelle derart viele Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten und Kindern und Jugendlichen (zu!) nahe zu treten. Alleine in Österreich wurden 27 Prozent der 11-bis 18-Jährigen im Internet bereits auf die ein oder andere Weise sexuell belästigt. Doch nicht nur im World Wide Web, sondern auch im nahen Umfeld kann es zu körperlichen und psychischen Übergriffen und Grenzüberschreitungen kommen.
Schutz vor Gewalt. Die internationale Non-Profit-Organisation "Innocence in Danger" setzt sich dafür ein, Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt und pornografischer Ausbeutung zu schützen. Alrun Behrens, Vorstandsmitglied von "Innocence in Danger Austria" im Gespräch über Gewaltprävention, Sensibilisierung und den aktiven Beitrag, den jede/r von uns leisten kann, um die Jüngsten der Gesellschaft zu schützen.
Frau Behrens, wie schützen wir Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt?
Alrun Behrens: Es ist wichtig, direkt an Kinder und Jugendliche heranzutreten und sie auf potenzielle Gefahrensituationen -on- und offline -aufmerksam zu machen. Viele junge Menschen haben diesbezüglich noch kein Risikobewusstsein bzw. nicht ausreichend Selbstsicherheit, um sich zu wehren. Übergriffe finden nicht immer offensichtlich statt, in vielen Fällen bahnen sie sich schleichend an. Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche in ihrer Wahrnehmung und ihren Gefühlen zu stärken, sodass sie bestenfalls gar nicht erst in Gewaltsituationen kommen.
Passieren Grenzüberschreitungen eher im Internet oder im Nahbereich?
Behrens: Leider in beiden Bereichen, wobei das nahe Umfeld noch immer der potenziell gefährlichste Bereich für Kinder und Jugendliche - und im Übrigen auch Frauen -ist. Durch den uneingeschränkten Internet-Zugang kommt es natürlich vermehrt zu virtuellen Übergriffen, durch etwa Sexting oder den Austausch von pornografischem Material. Im Internet kann das Opfer den Täter allerdings blocken, im unmittelbaren Umfeld ist das weitaus schwieriger. Auch körperliche Übergriffe passieren hier viel schneller. Außerdem ist es unglaublich schwierig, sich gegen eine Person, die einem nahe steht, der man vertraut, auf die man vielleicht sogar angewiesen ist, zu wehren. Das ist schon für Erwachsene nicht einfach, für Kinder aber oft unmöglich. Vor allem dann, wenn das Kind Sätze wie etwa "Wenn du jemanden etwas davon erzählst, komme ich ins Gefängnis", zu hören bekommt.
Braucht es raschere Vorgehensweisen im Fall von Kindesmissbrauch?
Behrens: Wichtig ist, betroffenen Kindern möglichst rasch Hilfe zu bieten und sie aus der Gefahrensituation herauszunehmen. Passiert Gewalt online, so haben Ermittler die Chance, sie zu entdecken und Verläufe nachzuverfolgen. Im Nahbereich ist das anders. Da braucht es Angehörige oder Freunde, die überhaupt wahrnehmen, dass etwas nicht stimmt und sich letztlich trauen, das auch anzusprechen. Es erfordert sehr viel Mut, z. B. den eigenen Bruder oder Partner als Täter zu denken. Da schwingen Scham und Ängste mit. Die (unbewusste) Tendenz, lieber wegzuschauen, ist durchaus menschlich. Am Ende des Tages geht es aber um den Schutz eines Kindes, das sich alleine nicht aus der Situation befreien kann.
Braucht es denn mehr Zivilcourage?
Behrens: Sicher. Bemerkt man das Fehlverhalten anderer, so ist es auf jeden Fall wichtig, eben nicht wegzuschauen. Sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen, hat einen schlechten Ruf, ist aber manchmal genau, was es braucht, um einen Übergriff zu verhindern. Ganz gleich ob online oder offline -Gewalt ist omnipräsent, wird aber oft geflissentlich übersehen. Um dieser stillen Normalisierung und Duldung von Übergriffen entgegenzuwirken, ist es wichtig, Dinge offen anzusprechen.
Wie beugen wir als Gesellschaft Gewalt vor?
Behrens: Die Werte, die Eltern, Familienmitglieder, Freunde und Lehrer Kindern und Jugendlichen vermitteln, prägen deren Persönlichkeit mit. Noch immer werden Mädchen stark dazu erzogen, zu gefallen und es dem Gegenüber recht zu machen, was sie anfälliger für Übergriffe macht. Noch immer lässt das Männerbild in unserer Gesellschaft kaum Verletzlichkeit zu, wodurch Buben sehr häufig nicht über ihre Gefühle sprechen oder darüber, vielleicht selbst schon Übergriffe erlebt zu haben - und dann eher zu Tätern werden. Doch auch Frauen und Mädchen können Täterinnen sein! Es ist wichtig, diese Stigmatisierung aufzubrechen und jungen Menschen Geborgenheit und An-bzw. Aussprachemöglichkeit zu geben. Auch der kritische Medienkonsum ist ein wichtiger Punkt. Bilder, Headlines, Memes, Social Media &Co. prägen -oft subtil. Frühe Aufklärung und Transparenz sind wesentlich, sodass Kinder und Jugendliche lernen, zu erkennen und zu benennen, wenn etwas nicht okay ist. Zusätzlich bräuchte es flächendeckende Leitlinien zum richtigen Vorgehen bei Verdachtsfällen. Denn mitzubekommen, dass einem jungen Menschen Unrecht geschieht, kann auch als Erwachsener sehr überfordernd sein.